Der Fussballclub Xamax hat etliche Betreibungen am Hals. Was will sein Besitzer und Milliardär Bulat Tschagajew mit dem Club? Und warum bezeichnet er einen mutmasslichen Kriegsverbrecher als seinen «Bruder»? Die AZ zeigt, worum es wirklich geht. von Christian Bütikofer
An der entscheidenden ausserordentlichen Generalversammlung am 12. Mai 2011 im Stade de la Maladière trafen sich die Aktionäre der Neuchâtel Xamax SA. Seit Wochen war bekannt, dass deren Präsident Sylvio Bernasconi die Aktiengesellschaft und somit den Klub loswerden wollte. Für den Kauf konnte Bernasconi den tschetschenischen Investor und selbsternannten Milliardären Bulat Tschagajew als neuen Besitzer begeistern.
299’284 Aktien waren vertreten an jenem Donnerstag im Mai in der Maladière. Die Versammlung sollte die Tschagajew-Leute Andrei Rudakow als Präsidenten und Olga Danese als Vizepräsidentin und Sekretärin in die Geschäftsführung wählen.
Die Opposition gegen Sylvio Bernasconis Wunsch war gleich Null: 297’994 Stimmen waren für den Verkauf, 1287 enthielten sich eines Votums, nur 3 waren dagegen.
Xamax für einen Apfel und ein Ei verkauft
Andrei Rudakow und Olga Danese wurden für eine Periode von drei Jahren gewählt. Remo Siliprandi verdankte dem abgetretenen Sylvio Bernasconi in einer leidenschaftlichen Rede seine Dienste für den Club. Nach knappen zwei Stunden gehörte Xamax nun ganz offiziell dem Tschetschenen Bulat Tschagajew.
Sylvio Bernasconi muss mit dem Verkauf ein Stein vom Herzen gefallen sein. Im Vorfeld kaufte er von diversen alten Aktionären die Papiere für ein Butterbrot zurück, um sie dann mehrheitsfähig Bulat Tschagajew zu verkaufen – praktisch wieder ohne Gegenwert.
Löhne waren schon 2010 nicht mehr zahlbar
Denn Bernasconi hatte ein grosses Problem: Im April 2010 musste er wiederholt für die Löhne seiner Xamax-Angestellten aus seiner privaten Schatulle aufkommen, der Club hätte sie sonst nicht bezahlen können. Das zeigen Dokumente, die az vorliegen.
Ende Juni 2011 waren gegen Xamax fünf Betreibungen im Wert von 1,5 Millionen Franken hängig. Im Jahr zuvor lag der Betrag noch bei einer bescheidenen Betreibung und knapp 300’000 Franken. Auch das zeigen Dokumente im Besitz von az.
Spieler schalteten Rechtsanwälte ein
Rechtliches Ungemach drohte Xamax ebenso durch Mittelfeldspieler Ifet Taljevic, der ab September 2009 nicht mehr im Team aufgeboten wurde. Dessen Anwalt zweifelte den Vertrag an, den er mit Xamax schloss. Auch Verteidiger Damien Tixier, den Xamax im März 2010 per sofort freistellte aber einen Vertrag bis 2012 besass, liess sich anwaltlich vertreten. Die Dokumente liegen öffentlich vor.
Auch um wichtige Sponsoren rangen die Xamax-Verantwortlichen noch 2010 verzweifelt. Man war darum froh, als Finanzchef Antonio Lopez das Werk der Uhrenschmiede Tissot in Le Locle für ein weiteres Jahr als Ärmelsponsor gewinnen konnte. Tschagajew hatte kurz nach seinem Amtsantritt diversen Sponsoren die Kündigung geschickt.
Inzwischen beklagt sich Bulat Tschagajew über die Geschäftsführung seines neusten Kaufs. Und auch der noch diesen Mai als neuen Präsidenten gewählte Andrei Rudakow ist bereits nicht mehr am Ruder.
Sein Amt übernahm Islam Satujew, ein 2004 abgewiesener Asylbewerber aus Tschetschenien, der «alles» seinem Gönner Tschagajew verdankt, wie er der Presse erklärte. Weil seine Frau an einer schweren Krankheit leidet, lebt er nach wie vor hier und kann Tschagajew nun etwas zurückgeben für dessen grosse Gönnerschaft.
Besitzer verstiess gegen die Regeln des Klubs
Mit dem neuen Präsidenten verstiess Tschagajew gegen die Statuten seines eigenen Klubs. Denn in Artikel 18 der Neuchâtel Xamax SA stand: Der Verwaltungsrat der Firma besteht aus einem oder mehreren Mitgliedern, die in der Mehrheit Aktionäre der Gesellschaft sein müssen, Schweizer sind und ihr Domizil in der Schweiz haben.
Das störte den neuen starken Mann Bulat Tschagajew nicht gross. Ein weiteres kleines Detail, das er schnell gelöst hatte. Und obwohl über den diskreten Milliardär aus der autonomen russischen Republik noch immer wenig bekannt ist, so entstand in den letzten Monaten aus Details wie diesem ein Gesamtbild mit grellen Zwischentönen.
Seit 24 Jahren ohne Sitz in der Schweiz
Bulat Tschagajew sagt, er sei seit 24 Jahren in der Schweiz tätig. Bereits Ende der 80er-Jahre will er in Zug ein Unternehmen für Rohstoffhandel gegründet haben.
Gegen aussen dürfte er nicht als Verantwortlicher der Firma in Erscheinung getreten sein: Dem Handelsregister Zug ist keine Person dieses Namens als Verwaltungsrat bekannt. Auch im Zuger-Archiv sucht man danach vergebens.
Als Tschagajew in Genf ab 2008 seine Unternehmen Envergure Holding, Envergure Real Estate 1, Envergure Management und Dagmara Trading gründet, gibt er als Wohnsitz Moskau an.
An dem Wohnort seiner Frau im Kanton Waadt ist er nicht gemeldet. Das Privileg, noch während der Zeiten der Sowjetunion in Europa handeln zu können, deutet auf sehr gute politische Verbindung hin.
Alte Seilschaften der Sowjetunion
Bulat Tschagajews Frau ist die Tochter des letzten kommunistischen Führers der Tschetschenen, Doku Sawgajew. Heute sitzt er auf einem geruhsamen Botschafterposten in Slowenien. Es zeigt sich: Tschagajew entstammt der alten sowjetischen Nomenklatura, die es schaffte, sich aus der postkommunistischen Ära als Gewinner in der Neuzeit zu etablieren.
Eine Informationsperson von az aus Tschetschenien bestätigt dies: «Als Russland 1995 Grosny und den grössten Teil Tschetscheniens zerstörte und eroberte, setzte der Kreml Doku Sawgajew als Präsidenten ein. Sawgajew und sein Clan wurden von den meisten Tschetschenen als Verräter angesehen, als Nationalverräter, die die Freiheit Tschetscheniens verkauft haben. 1996 endete der erste Krieg, die Russen zogen sich zurück und die tschetschenische Regierung stellte einen Haftbefehl gegen Sawgajew aus. Der war aber schon längst in Moskau, wie auch sein ganzer Clan.»
Ein Statthalter aus dem Limousinen-Verleih
Bulat Tschagajews Gewährsleute zeichnen sich mitunter nicht unbedingt durch einen langjährigen Leistungsausweis aus sondern müssen offenbar vor allem eins sein: loyale Vollstrecker. Anders ist es nicht zu erklären, dass er etwa für seine Dagmara Trading einen Jungspund als Verwaltungsrat anstellte, der nebenbei mit seinem Vater noch einen Limousinen-Service führte.
Einen Vorteil hatte der Nachwuchs-Verwaltungsrat immerhin: Er lebt in der Schweiz. Das brauchte Tschagajew, denn hier muss jede Aktiengesellschaft durch eine Person mit Sitz in der Schweiz vertreten sein. Etwas, das Bulat Tschagajew bis heute nicht bieten kann. Da fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, dass sich Milliardär Tschagajew durch seine Vertreter in einer Art und Weise vor öffentlichen Ämtern vertreten lässt, die jeder Einmannfirma spottet (siehe Bildergalerie).
Bauernschlaues Geldverständnis
Als Bulat Tschagajew beim Xamax-Amtsantritt dem Schweizer Fernsehen der Romandie TSR ein Interview gab, wollten die Journalisten wissen, wie er zu seinem sagenhaften Vermögen kam. Sie sprachen ihn auch auf den geäusserten Verdacht der Geldwäsche an. Seine Antwort? Bauernschlau: Geld sei nicht schwarz oder weiss. Wenn er Schuhe kaufen gehe, werde er auch nicht gefragt, welche Farbe sein Geld habe.
Wieviel Geld er denn besitze, wollten die Journalisten wissen. Da habe er keine Ahnung, er zähle es nicht. Weiter nahm es die neugierigen TSR-Leute wunder, welche Beziehung er zum Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, unterhalte. Kadyrow sei für ihn wie ein Bruder, meinte der neue Xamax-Herrscher Tschagajew.
Die letzte Frage war unvermeidlich: Tschagajew ist einer der Investoren des FC Terek, das Lieblingsspielzeug von Ramsan Kadyrow, der Vorzeigeklub der autonomen Republik Tschetschenien. Regelmässig veranstaltet Kadyrow Show-Spiele mit international bekannten Grössen der Fussballwelt. Das Ziel: Ein Spiel an der WM 2018 für Russland ausrichten zu dürfen.
Der «Bruder» des Xamax-Bosses
Doch wer ist eigentlich dieser «Bruder»? Wer ist Ramsan Kadyrow?
Ramsan Kadyrow ist der Sohn des früheren tschetschenischen Präsidenten Achmat Kadyrow, der im Mai 2004 durch eine Bombe ermordet wurde. Achmat Kadyrow war der Stellvertreter des russischen Präsidenten Wladimir Putin und im Land wegen seiner Schergen gefürchtet – unter anderem entführte einer seiner Leibwächter einen bekannten Moskauer Radioreporter.
Verantwortlich für die Sicherheit von Achmat Kadyrow war sein Sohn Ramsan. Doch statt für sein Versagen zur Verantwortung gezogen zu werden, beorderte ihn Putin noch am gleichen Tag in den Kreml und machte ihn zum faktischen Herrscher über Tschetschenien. Wenig später erhält Kadyrow-Junior die Auszeichnung «Held der Russischen Föderation» – die höchste Auszeichnung, die der russische Staat an seine verdienten Bürger zu vergeben hat.
Solche Fakten allein beschreiben den 34-jährigen Ramsan Kadyrow jedoch schlecht. Ein Bericht von Anna Politkowskaja zeigt da schon mehr. Sie war die einzige Journalistin aus Russland, die regelmässig über Tschetschenien und den zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) berichtete und diese autonome Republik regelmässig bereiste.
2005 besuchte sie Ramsan Kadyrow, jedoch nicht in der Hauptstadt Grosny sondern im Ort Zenteroi, dem Zentrum seines Clans. In Grosny bewegte er sich nur selten, aus Angst vor Mordanschlägen.
Denkwürdiges Interview
Politkowskaja nannte Ramsan Kadyrow in ihrem Buch «Russisches Tagebuch» einen «verrückten Analphabeten» und «Gangster». Als sie 2005 in Zenteroi zum Interview erschien, wurde sie von Kadyrows «Sicherheitspersonal» keinen Augenblick aus den Augen gelassen.
Man führte sie ins «Gästehaus» seines Anwesens. Kadyrow liess sich sieben Stunden nicht blicken. Dafür zeigte man Politkowskaja einen Prunkpalast, der mit den teuersten Materialien erstellt wurde, mit Jacuzzi, Sauna, Marmor-Cheminée.
An sämtlichen Möbeln und sonstigen Einrichtungen hingen demonstrativ Preisschilder in Dollarwährung.
Zusammengeramschte Ware «Made in Hong Kong» wechselte sich mit teuerster Marmorausstattung ab, auch ein kitschiger Springbrunnen in Hof durfte nicht fehlen. Das zu einer Zeit (2005), als Tschetschenien völlig zerstört war. Es fehlte an allem – nicht so in Kadyrows Zenteroier Residenz, ein zusammengeräuberter Palast schlechten Geschmacks.
Was dann nach sieben Stunden Warten folgte, als sich Kadyrow endlich zum Interview bemühte, hätte surrealer nicht sein können. Man bat die Journalistin in einen schummrigen Raum mit einem Tisch und vor versammelte Kadyrow-Schar, alle bis an die Zähne bewaffnet.
Als Ramsan Kadyrow erschien, räkelte er sich auf einem Sessel vis-à-vis von Politkowskaja, überkreuzte die Beine und schaffte es, dass sich seine Füsse – nur mit Socken bekleidet- praktisch auf Kopfhöhe mit der Journalistin befanden.
Dann begann der 34-jährige faktische Herrscher einen Sermon über seine politischen Ziele. Er gab offen zu, mit dem russischen Geheimdienst FSB zusammenzuarbeiten, übernahm für sämtliche Geschehnisse in Tschetschenien die volle Verantwortung und rühmte sich seines direkten Drahtes zum Kreml.
Der Chef will am Rücken gekrault werden
Während des skurrilen Interviews (siehe Box) lachte Ramsan Kadyrow immer wieder an den unpassendsten Stellen, «wieherte wie ein Pferd» – und seine Lakaien stimmten ins freche Gelächter ein. Dann befahl er einem seiner Bewacher, ihn am Rücken zu kraulen – und der machte, wie ihm geheissen wurde. Ein einziges Mal wusste sich Kadyrow während der Visite Anna Politkowskajas zu benehmen. Das war, als er aus dem Kreml einen Telefonanruf entgegen nehmen musste.
Politkowskajas Fazit in ihrem «Russischen Tagebuch»: «Ramsan Kadyrow besitzt keinerlei Bildung, dafür aber den Dienstgrad eines Hauptmanns der Miliz (Anmerkung: Zivile Polizei). Wie er dazu gekommen ist, bleibt sein Geheimnis, war Kadyrow junior doch nie Milizionär, ganz abgesehen davon, dass man in Russland für diesen Rang eine abgeschlossene Hochschulausbildung nachweisen muss.» Und weiter: «Ramsan Kadyrow ist nicht einfach ein Mensch ohne Anzeichen intellektueller Tätigkeit, er ist ein Mann des Krieges und des Terrors. Ohne Krieg und Terror und das daraus resultierende Chaos gibt es für ihn einfach nichts zu tun.»
Ein knappes Jahr nach diesem denkwürdigen Interview war Anna Politkowskaja tot. Ermordet am 7. Oktober 2006 im Aufgang ihres eigenen Wohnhauses in Moskau.
Sie war für ihre Zeitung «Nowaja Gaseta» mit einer Recherche zu aussergerichtlichen Erschiessungen und Folter durch Kadyrows Banditenverbände fast fertig.
Tschagajew vs. Kadyrow: Adel gegen Bauer
Die Frage bleibt: Warum bezeichnet ein schwerreicher Besitzer eines Schweizer Fussballvereins Ramsan Kadyrow als «Bruder»? Und warum kauft sich ein Milliardär ausgerechnet einen Schweizer Klub?
Eine Informationsperson aus Tschetschenien von az, hat eine Erklärung: «Obwohl in der Presse immer wieder berichtet wird, dass Tschagajew ein Mann von Kadyrow sei, stimmt das nicht. Tschagajew und sein Clan verachten Kadyrow eher. Salopp könnte man ihr Verhältnis als ‹Adel vs. Bauer› bezeichnen. Der Clan von Sawgajew braucht eine endgültige Rehabilitation in Tschetschenien, um zum anerkannten führenden Teil des heutigen Establishments zu werden. Kadyrow wiederum braucht ein ‹zivilisiertes Gesicht›, das er der Weltöffentlichkeit präsentieren kann. So veranstaltet Tschagajew in Grosny eine Show mit Prominenten aus der Fussballwelt und Showbusiness und bekommt im Gegenzug von Kadyrow einen Orden ‹Für Verdienste der tschetschenischen Republik›.»
Ziel: Normalität vorgaukeln
Diese Theorie ist nicht aus der Luft gegriffen. So sagte Alexander Tscherkassow, der Leiter des Moskauer Büros von «Memorial», der grössten russischen Menschenrechtsorganisation, noch 2009: «Tschetschenien ist wie 1937/1938. Die Menschen bekommen Wohnungen, Theateraufführungen, Konzerte, alles wirkt ganz normal… und nachts verschwinden Menschen.»
Seit zehn Jahren sei in Tschetschenien die Zahl der ermordeten oder «verschwundenen» Personen pro 10 000 Einwohner grösser als die Zahl der Opfer der Grossen Säuberungen unter Stalins Terrorherrschaft 1937 bis 1944 (hunderttausende Tschetschenen wurden damals nach Kasachstan deportiert, wegen angeblicher Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten Hitlers während dem 2. Weltkrieg – eine infame Lüge, die längst widerlegt ist).
Tscherkassow meinte, Kadyrows Regime gaukle die Illusion einer Normalität vor.
© az Aargauer Zeitung, 12.09.2011