Doppelbürger Erwin Sperisen war von 2004 bis 2007 Polizeichef Guatemalas. Danach flüchtete er in die Schweiz. Guatemaltekische Behörden werfen ihm illegale Erschiessungen vor. Jetzt besitzt die Genfer Staatsanwaltschaft die belastenden Akten. von Christian Bütikofer
Der ehemalige Polizeichef Guatemalas Erwin Sperisen (41) soll in schwerste Verbrechen verwickelt gewesen sein. Von 2004 bis 2007 unterstanden dem guatemaltekisch-schweizerischen Doppelbürger während der Amtszeit der konservativen Regierung Oscar Bergers 19’000 Beamte der Bundespolizei Policía Nacional Civil (PNC).
Während dieser Zeit erlebte das mittelamerikanische Land eine Welle beispielloser Gewalt. Sperisens Ära als Polizeichef war überschattet von diversen Skandalen und dem ständigen Verdacht, in seinem Verband operierten Todesschwadronen.
Nachdem mehrere Politiker aus dem Nachbarland El Salvador während einem offiziellen Besuch von Maskierten mit Polizeimunition ermordet wurden, nahm Erwin Sperisen kurze Zeit später den Hut. Er setzte sich im April 2007 in die Schweiz nach Genf ab.
2010 erliess die Generalstaatsanwaltschaft Guatemalas in Zusammenarbeit mit der UNO-Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) einen internationalen Haftbefehl gegen diverse Protagonisten jener Regierung. Auch Sperisen befand sich auf der Fahndungsliste. Einer der Vorwürfe an ihn: Beteiligung an aussergerichtlichen Hinrichtungen in mindestens zwei Fällen.
Fall 1: Im Oktober 2005 türmten 19 Schwerverbrecher aus dem Gefängnis «Infiernito» am Rande der Hauptstadt Guatemala City. Statt die Häftlinge zu verhaften und zurückzuführen, sollen die eingesetzten Polizisten gleich den Auftrag gefasst haben, die Verbrecher zu exekutieren. Drei von ihnen wurden denn auch umgebracht.
Fall 2: Am 25. September 2006 stürmten 3000 Sicherheitskräfte (Polizisten, Soldaten) das Gefängnis «El Pavón» (um die 1000 Insassen), das ebenfalls in der Nähe der Hauptstadt Guatemala City liegt. Mit dieser Operation wollten die Behörden die Kontrolle über die Strafanstalt zurückgewinnen, denn seit geraumer Zeit herrschten die Häftlinge autonom übers Gefängnis.
Statt die Ordnung mit legalen Mitteln wiederherzustellen, wurden sieben Insassen aussortiert und erschossen, danach vertuschten die Täter verräterische Spuren. So versuchten sie etwa, ein Gefecht vorzutäuschen. Diese Aktion wurde in einem 60-seitigen Dokument von der CICIG akribisch festgehalten und liegt az vor.
Strafanzeige wurde in Genf verschlampt
Bereits am 20. Juli 2007 hatten diverse Nichtregierungsorganisationen in Solothurn Strafanzeige gegen Sperisen wegen vorsätzlicher Tötung und schwerer Körperverletzung eingereicht. Solothurn wurde gewählt, weil er in jenem Kanton das Bürgerrecht besitzt. Die Anzeige liegt az vor.
Die Solothurner Behörden wussten bald, dass Sperisen in Genf sitzt, und gaben das Dossier 2008 an den Genfer Oberstaatsanwalt Daniel Zappelli ab. Doch der schubladisierte den Fall, beauftragte lange nicht einmal einen Untersuchungsrichter, um den massiven Anschuldigungen nachzugehen.
Erst als die internationalen Haftbefehle gegen die ehemaligen Regierungsmitglieder im September 2010 weltweit publik wurden, versprachen die Genfer Behörden plötzlich, die Sache rasch an die Hand zu nehmen.
Im April 2011 deponierte der zuständige Staatsanwalt Michel-Alexandre Graber dann in Guatemala ein Rechtshilfegesuch. Es betrifft unter anderem die zwei Vorfälle in den Gefängnissen, wie auch die ungeklärten Umstände der Morde an den salvadorianischen Politikern.
Beweismaterial aus Guatemala eingetroffen
Inzwischen sollte Graber die Dokumente erhalten haben, wie die guatemaltekische Zeitung «El Periódico» berichtet. Gemäss der Zeitung hat die guatemaltekische Staatsanwaltschaft den Fall auch an die Schweiz abgetreten, ein Auslieferungsbegehren wäre zwecklos. Denn zwischen der Schweiz und Guatemala besteht kein derartiges Abkommen und gemäss Artikel 25 der Bundesverfassung liefert die Schweiz grundsätzlich keine Staatsbürger aus – davon profitiert Doppelbürger Sperisen.
Für zwei andere ehemalige Mitstreiter Sperisens, die sich ebenfalls ins Ausland absetzten, sieht es weniger gut aus: In Österreich und Spanien sind zwei Auslieferungsbegehren aus Guatemala hängig.
Laut Sperisens Anwalt Florian Baier nimmt der Ex-Polizeichef zur laufenden Untersuchung keine Stellung. Früher bestritt er sämtliche Anschuldigungen und behauptete, die Vorwürfe seien Teil einer politischen Kampagne.
© az Aargauer Zeitung, 29.07.2011