Wikipedia: Wie auf einem Basar

Von Christian Bütikofer

Vor 2001 war das Internet ein Minenfeld für Faktensucher. Welche Seiten im Internet zuverlässig informieren und welche Halbwissen verbreiten, war nicht einfach herauszufinden. Doch dann präsentierten der ehemalige Börsenhändler Jim Wales und sein Gefährte Larry Sanger mit Wikipedia eine Lösung für dieses Problem: Jeder soll sein Spezialwissen gratis auf Wikipedia zur Verfügung stellen. Und jeder, der sich im gleichen Thema auskennt, kann die Artikel ergänzen und korrigieren.

Der Gedanke erschien damals vielen absurd. Wer arbeitet schon gratis? Und schaut so auch Qualität heraus?

Heute enthält die englische Ausgabe von Wikipedia über drei Millionen Einträge. Die deutsche Version nähert sich der ersten Million. Die Inhalte, so zeigt eine Studie des Wissenschaftsmagazins «Nature», müssen sich nicht hinter Profi-Nachschlagewerken wie der «Encyclopedia Britannica» verstecken. Internetnutzer finden auf Wikipedia zu beinahe jedem Thema Wissenswertes. Wikipedia brachte dem Internet mehr Qualität.

Mit dem Erfolg kommen die Probleme – so streiten sich derzeit sogenannte Exklusionisten mit den Inklusionisten. Erstere wollen den aktuellen Bestand perfektionieren und möglichst wenige neue Schreiber. Sie wehren sich nicht nur gegen Vandalen und Schmierer. Sie schliessen auch neue Artikel schnell als «nicht relevant» aus und ziehen damit den Zorn der Neulinge auf sich.

Die Inklusionisten demgegenüber wollen die Barrieren für neue Einträge senken. Sie stören sich nicht an Artikeln über Computergames, TV-Serien und regionalen Besonderheiten.

Schon einmal brach ein solcher Zwist aus. So wurde Wikipedia-Mitbegründer Larry Sanger von einem Schreiber beschuldigt, Artikel grundlos zu löschen. Sanger war nie richtig glücklich über die Massen von Laien, die sich am Projekt zu schaffen machten. 2002 verlor er den Machtkampf und ging. Die Massen, die er zur Mitarbeit einlud, hatten sich gegen ihn gewandt.

Resultat eines Diskurses

Wikipedia wird immer als Bibliothek bezeichnet. Diese Annahme liegt zwar nahe, ist aber falsch. Wikipedia wurde aus dem Wunsch nach Zusammenarbeit geboren. Die Website ist das Resultat eines andauernden Diskurses, ob zwei und zwei vier ergeben – die Artikel sind ja immer von allen editierbar. Sollte sich die Mehrheit eines Tages darauf einigen, dass zwei und zwei fünf geben, dann steht es so in Wikipedia.

Im Gegensatz zu Bibliotheken der Experten, die ihr Werk wie in einer Kathedrale organisieren, geht es auf Wikipedia zu wie auf dem Basar. Da wird gehandelt, und allerlei «nicht Relevantes» bekommt bei genügend Interesse plötzlich einen Wert. Auf Wikipedia gehören die Inhalte allen, ganz im Gegensatz zu traditionellen Bibliotheken. Wenn sich Schreiber aufführen wie in der Kathedrale, werden sie über kurz oder lang von den Massen zum Gehen gedrängt. Der Streit um Sanger nahm diesen Zwist schon vorweg.

© Tages-Anzeiger; 03.12.2009

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