Archive for April, 2007

Zweites Leben in der grossen Blase

Wednesday, April 11th, 2007

Die virtuelle Computerwelt Second Life gilt als Goldgrube der neuen Internetdienste. Bei genauem Hinsehen fragt man sich nur: Warum?

Von Christian Bütikofer

Die virtuelle Computerwelt Second Life ist ein Dauerthema geworden. Wenn ein unbekannter Musiker dort eine virtuelle Präsenz eröffnet oder ein Werbeniemand in Second Life Seminare für Führungskräfte anbietet, haben sie die Aufmerksamkeit der Zeitungen auf sicher. Journalisten werden in die virtuelle Welt geschickt, um Tagebuch zu führen; ein Blatt behauptete, dass Second Life schon bald ein ernst zu nehmendes Promo-Werkzeug der Musikindustrie sein werde.

Ein anderes Blatt tadelt Schweizer Politiker, weil sie nicht in Second Life vertreten sind. An der Computermesse Cebit verkündete die Hamburger Handelskammer, sie werde eine Präsenz in Second Life eröffnen und unterstreiche damit ihre «Vorreiterrolle bei der Erschliessung neuer Vertriebs- und Kommunikationswege im Internet.» Second Lifeals neues Internet-Eldorado, wo alle dabei sein müssen, PR-Floskeln inklusive?

Ein Rollenspiel wie jedes andere

Jeder Bewohner durchwandert die virtuelle Welt von Second Life mit einer Figur, die den Spieler repräsentiert – hier unterscheidet sich Second Life nicht gross von jedem normalen Internet-Rollenspiel (auch Massive Multiplayer Online Role-Playing Game genannt). Im Gegensatz zu normalen Rollenspielen gibts keine Geschichte, die man nachlebt -Second Life ist mehr wie ein 3D-Chatraum, wo man mit anderen Besuchern Kontakte knüpft.

Der Hauptunterschied zu normalen Games aber ist das 3-D-Programm, dessen Bedienung man sich erst aneignen muss, damit man in Second Life Dinge aller Art erstellen und verkaufen kann – vom Haus bis zum Kleid ist alles möglich. Entscheidet man sich dazu, ein Produkt anderen Spielern zu verkaufen, zahlt man den Machern von Second Life eine monatliche Miete von knapp zehn Dollar. Nur wer ein Stück Land von Second Life besitzt, kann seine Produkte verkaufen – für virtuelles Geld, so genannte Linden-Dollars, die wiederum in echte amerikanische Dollars getauscht werden können.

Einige wenige kassieren fast alles

Diesen Februar zirkulierten in Second Life 5 Millionen Euro. Laut der Zeitung «Libération» wiesen nur gerade 300 Personen einen Kontoauszug auf, der über 1200 Franken betrug – das ist enorm wenig, wenn man bedenkt, dass laut der Firma Linden Lab (die Firma hinter Second Life) offiziell 300 000 Personen regelmässig an der virtuellen Welt teilnehmen.

Wie im richtigen Leben, so sind offenbar auch hier die wirtschaftlichen Verhältnisse ungleich: Unzählige Proletarier schlagen sich mit schlecht bezahlten Jobs durchs Second Life, während einige wenige richtig investieren können – die zweite Welt als Abbild der ersten?

Wenn man sich weitere Zahlen vor Augen hält, begreift man noch weniger, warum Second Life als Investment-Plattform mit unendlich vielen potenziellen Kunden angesehen wird und Firmen wie Daimler, Mazda, Coca-Cola oder IBM dort ihre Zelte aufschlagen.

Einmal drin – und dann nie wieder

Von den über 5 Millionen registrierten Nutzern in Second Life kommt nur ein Bruchteil regelmässig wieder – innerhalb der letzten 60 Tage verzeichnete Linden Lab 1,6 Millionen Log-Ins. Ein Log-In bedeutet, dass man sich einmal inSecond Life einklinkte. Wie lange man aber in der virtuellen Welt lebte und ob man nach den ersten Eindrücken je wieder zurückkehrte, darüber sagt die Zahl nichts aus. Die immer wieder kolportierten Millionzahlen dürften tatsächlich viel kleiner sein.

Die Anzahl Second-Life-Bewohner, die einen kostenpflichtigen Zugang besitzen, also eine Monatsgebühr von knapp zehn Dollar entrichten, lag laut Linden Lab Ende 2006 bei weniger als 50 000 Personen. Vergleicht man Second Lifemit dem zur Zeit erfolgreichsten Online-Rollenspiel World of Warcraft der Firma Blizzard, wird noch deutlicher, in welcher Liga Second Life spielt: World of Warcraft spielen zurzeit mehr als acht Millionen Personen, die für dieses Game monatlich zahlen.

Warum trotzdem die herrschende Euphorie gegenüber Second Life? Mario Sixtus vom deutschen «Handelsblatt» erklärt sich die Beliebtheit von Second Life in Wirtschaft und Werbeindustrie in einer Blog-Polemik wie folgt: «Das Auftauchen von Second Life muss zu einem kollektiven Aufatmen in den Marketing-Abteilungen dieses Planeten geführt haben. Endlich kann man auch im Internet so weitermachen wie in der guten alten Zeit vor dem Internet. Man kann Plakate aufstellen, Filialen eröffnen […] und sogar Verkaufspartys veranstalten.» Er wirft der alten Wirtschaft vor, sie sei noch immer ideenlos, wie man im Web geschäfte, und stürze sich darauf auf Second Life, weil es den alten Konzepten möglichst nahe komme, indem es die richtige Welt simuliere.

Woher die Zeit nehmen?

Ein anderer Grund, warum Second Life zu einem Dauerhype wurde, ist wohl auch die Tatsache, dass die Personen um Linden Lab beträchtliche Investitionsgelder im Millionenbereich von Internetpionieren wie den Gründern von Amazon und Ebay erhielten und vor markigen Werbesprüchen nicht Halt machen. So behauptete Philip Rosedale, Gründer von Linden Lab, gegenüber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», dass bald die Hälfte aller Menschen eine zweite Identität im Internet besitzen werde, und weiter: «Viele Dinge gehen bei uns einfach besser als im richtigen Leben.» Was sicher nicht besser geht, ist die Zeiteinteilung. Es fragt sich, wie man in Second Life Wahlkämpfen, der Fasnacht oder Konzerten folgen soll, wenn man schon im echten Leben den täglichen Informationsfluss kaum bewältigen kann.

www.secondlife.com

www.sixtus.net/entry/856_0_1_0_C/

www.sixtus.net/entry/865_0_1_0_C/

© Tages-Anzeiger; 11.04.2007