Wir bauen uns eine schöne neue Welt

Im Internetspiel «Second Life» vermischen sich reales und virtuelles Leben zusehends. In der Kunstwelt erfinden ihre Bewohner Dinge, die sie im realen Leben verkaufen.

Von Christian Bütikofer

«In meiner ganzen Karriere schwamm ich gegen den Strom», sagt Philip Rosedal. Darum beunruhigten ihn die Warnungen etlicher Finanzanalysten nicht, als sie ihm dringend von seinem Projekt abrieten: das Erstellen und Vermarkten einer virtuellen Spielwelt, deren Bewohner selber für Inhalt sorgen würden. Rosedal wollte also mit einem Spiel Geld verdienen, das erst durch die Eigeninitiative der Spieler zum Spiel wird – verkehrte Welt im Gamebusiness.

Doch Philip Rosedal fand potente Investoren – darunter auch Ebay-Gründer Pierre Omidyar und Amazon-Erfinder Jeff Bezos -, und 2003 setzte der ehemalige Cheftechnologe von Real Networks mit seiner neuen Firma Linden Research den Traum in die Realität um; das Multiplayer-Onlinerollenspiel «Second Life» wurde für alle Interessierten zugänglich. Waren es zu Beginn einige wenige Tausend Spieler, so zählt «Second Life» heute bereits über 240 000 Bewohner.

Multiplayerspiele, in denen Leute aus der ganzen Welt miteinander virtuelle Abenteuer bestehen, liegen im Trend und sind ein Millionengeschäft – monatlich buhlen neue Games dieses Genres um die Gunst zahlender Kunden. «Second Life» unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von vielen anderen: Normale Multiplayerspiele sind zielorientiert (erobere diese Burg, besiege jenen Bösewicht), «Second Life» kennt keine Mission. Normale Multiplayerspiele bedienen sich oft fantastischer Elemente – «Second Life» bildet die Realität ab. Normale Multiplayerspiele sind meist kriegerische Angelegenheiten, «Second Life»-Bewohner leben friedlich zusammen. Normale Multiplayerspiele sind in sich geschlossene Systeme, «Second Life» ist offen.

Die Website www.mmogchart.com untersucht viele Rollenspiele auf ihre Anzahl Teilnehmer. Die dort ersichtlichen statistischen Daten zu «Second Life» legen nahe, dass gerade das offene und ziel-lose System dazu führt, dass «Second Life»-Bewohner dem Game viel länger treu bleiben als anderen Rollenspielen. Denn bei traditionellen Multiplayergames verabschieden sich viele Spieler, sobald sie alle Ziele erreicht haben, weil danach keine neuen Herausforderungen mehr bestehen.

Jeder Spieler ein (Spiel-)Designer

«Second Life» animiert zur Kreativität. Jeder Bewohner durchwandert die virtuelle Welt mit einem «Avatar»: einer Figur, die den Spieler repräsentiert. Zudem erhält er ein 3-D-Programm zum Erstellen von virtuellen Dingen aller Art. Mit diesem Konstruktionswerkzeug erstellt ein Spieler von der Hose bis zum Auto alles; ohne die Kreativität der «Second Life»-Gamer funktioniert das Spiel nicht.

Entscheidet man sich dazu, ein Produkt anderen Spielern zu verkaufen, zahlt man den Machern von «Second Life» eine monatliche Miete von 10 Dollar. Denn nur wer ein Stück Land von «Second Life» besitzt, kann seine Produkte an den Mann bringen. Viele «Second Life»-Spieler schauen sich die Produkte anderer an, und jedes virtuelle Erzeugnis ist auch zu kaufen – für virtuelles Geld, so genannte Linden-Dollars. Die Linden-Dollars kann man in echte amerikanische Dollars tauschen. Pro Tag wechseln in «Second Life» Waren im Wert von 230 000 Dollar die Hand.

Jedes virtuell erstellte Produkt in «Second Life» gehört seinem Erfinder – er besitzt das Copyright dazu, nicht die Betreiber von «Second Life». Man kann also ein virtuell erfundenes Produkt nicht nur im Game verkaufen, sondern auch im richtigen Leben. Die Spieler finden sich so unverhofft im echten Designer- und Produktionsprozess der realen Welt wieder.
So erfand der Australier Nathan Keir in «Second Life» das Spiel «Tringo» – eine Mischung aus Tetris und Bingo. Mit der Zeit verdiente er über 5000 Dollar, indem er anderen «Second Life»-Bewohnern virtuelle Kopien verkaufte. Jetzt hat er die Lizenz für Tringo an die kalifornische Firma Crave veräussert. Das Spiel gibts nun für Nintendos Gameboy zu kaufen (www.cravegames.com).

Klage wegen virtuellem Land

Das dem Spiel «Second Life» zu Grunde liegende reale Wirtschaftsmodell ist nicht nur ein Segen, es bescherte Linden-Research-Boss Philip Rosedal in der Vergangenheit auch schon Kopfzerbrechen: Inflation und Gebührenänderungen führten zu einer Revolte. Unzufriedene warfen «Linden-Tee» in einen virtuellen Hafen von Boston – analog zum historischen Ereignis von 1773, das den Anfang der Unabhängigkeit der USA von England markierte. Damals drangen Bostoner Bürger in den Hafen ein und warfen drei Ladungen Tee von den Schiffen ins Hafenbecken, um gegen neue Steuergebühren zu protestieren.

Und seit diesem Mai wartet in Pennsylvania auch die erste Klage eines «Second Life»-Bewohners gegen die Firma Linden Research auf Behandlung. Marc Bragg investierte Tausende Dollars in «Second Life»-Land, das er mit einem Kniff zu marktunüblichen Preisen erstand. Danach wollte er die Parzellen Gewinn bringend wiederverkaufen, was Linden Research verhinderte. Bragg behauptete, dass seine Bodenspekulationen nicht illegal gewesen seien und verklagte daraufhin Linden Research.

Prostitution und Politplakate

Auch Architekt Brian Ulaszewski hat das Spiel entdeckt. Er kandidierte für einen Sitz im Parlament von Long Beach, Kalifornien. Der passionierte «Second Life»-Bewohner übertrug seine Politkampagne flugs ins Game und dürfte damit die erste Person sein, welche die virtuelle Welt für diesen Zweck einsetzte.

Neue Wege begeht auch die American Cancer Society. Sie führt jährlich Sponsorenläufe durch, um die Bekämpfung von Krebs finanziell zu unterstützen. Im August 2005 liefen nicht nur viele Tausend Amerikaner in der realen Welt für dieses Projekt – etliche schickten ihre Spielfiguren auch in «Second Life» auf die Piste. Die virtuelle Aktion generierte echte Dollarspenden.

Wo Menschen zusammenkommen, ist auch das Thema Sex nicht weit; es war nur eine Frage der Zeit, bis in «Second Life» das Rotlichtmilieu Fuss fasste. In «Amster Dame» bieten Avatare ihre einschlägigen Dienste an. Und auf speziellen Webseiten bewerten die «Second Life»-Bewohner ihre virtuellen Begegnungen in dieser Meile.

In «Second Life» passiert etwas, was der Sciencefictionautor Neal Stephenson 1992 mit «Metaverse» beschrieb. In seinem Buch «Snow Crash» benutzte er den Begriff Metaverse für ein Paralleluniversum, das nur online existiert. Dessen Bewohner wandern als Avatare umher und interagieren virtuell miteinander. Was im Onlineuniversum passiert, hat Auswirkungen auf die echte Welt und umgekehrt. «Second Life»-Erfinder Philip Rosedal ist sich dessen voll bewusst. Er meint: «Wir kreieren kein Spiel, wir erschaffen ein neues Land. Es ist ein bisschen wie im Film Matrix.»

© Tages-Anzeiger; 19.06.2006

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